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Thomas-Autograph in der Kölner Dom- und Diözesanbibliothek (Cod. 30, fol. 16r

Die Thomas-Handschrift in der Kölner Diözesan- und Dombibliothek

Eindrucksvollstes Zeugnis der Kölner Assistentenjahre des Thomas von Aquin und die unmittelbarste und bedeutendste Spur, die er am Rhein hinterlassen hat, ist eine Handschrift, die erst vor wenigen Jahren in der Kölner Diözesanbibliothek entdeckt wurde. Ja, es läßt sich sagen, daß es sich hierbei möglicherweise um seine erste eigene schriftliche Äußerung handelt.
Die Handschrift ist ja „wie das Gesicht eines Menschen“  (Robert Spaemann), und der sog. littera illegibilis des Thomas von Aquin läßt sich nicht nur ein Eindruck von seiner besonderen Arbeitsweise, sondern auch einiges von seiner geistigen und geistlichen Physiognomie entnehmen.
Bei der besagten Handschrift handelt es sich um Randglossen in einem Codex mit Werken des Ps.-Dionysius Areopagita.

Wer war Ps.-Dionysius Areopagita?

Allerheiligenfenster im Kölner Dom (Anfang 14. Jh.) mit Motiven der himmlischen und kirchlichen Hierarchien

Dieser rätselhafte Autor, aller Wahrscheinlichkeit nach ein christlicher Neuplatoniker des 6. Jahrhunderts, der sich in seinem Denken an die Philosophie des Plotin (205-270) und vor allem des Proklos (412-485) anschloß, galt dem Hochmittelalter als quasi-apostolische Autorität, da er mit jenem Dionysius identifiziert wurde, der sich nach dem Bericht in der Apostelgeschichte (17,34) auf die Predigt des Apostels Paulus in Athen hin diesem angeschlossen hatte. Seine Schriften zu den göttlichen Namen (De divinis nominibus), zur himmlischen und kirchlichen Hierarchie (De caelesti hierarchia, De ecclesiastica hierarchia) und zur mystischen Theologie (De mystica theologia) sowie seine zehn Briefe wurden im Mittelalter „fast wie die Bibel selbst“ (E. Gilson) verehrt. Zum überwältigenden Einfluß der Schriften des Ps.-Dionysius auf das lateinische Mittelalter hatte neben dem Pseudonym des Apostelschülers seit dem 8. Jahrhundert außerdem seine Identifikation mit dem Pariser Märtyrerbischof Dionysius des 3. Jahrhunderts beigetragen, der in der Krypta der Abteikirche von St. Denis begraben lag - so daß der Name des Ps.-Dionysius Areopagita in sich die Identität dreier verschiedener historischer Persönlichkeiten vereinte. 

Die Dionysius-Rezeption durch Albertus Magnus in Köln

Albert räumte den Schriften des Ps.-Dioysius einen hohen Stellenwert ein und hatte in Köln damit begonnen einen ersten umfassenden Zugang zu seinem Werk zu erarbeiten, indem er die dionysischen Schriften fortlaufend kommentierte.

Thomas schrieb das gesamte Kommentarwerk Alberts eigenhändig ab. Dieser Codex mit den Dionysius-Kommentaren Alberts, von der Hand des Thomas geschrieben, befindet sich heute in der Nationalbibliothek in Neapel (Napoli, Biblioteca Nazionale I B 54). Er war die Grundlage für die Erstellung der historisch-kritischen Ausgabe dieser Kommentare in der vom Albertus-Magnus-Institut herausgegebenen Gesamtedition der Werke Alberts, der Editio Coloniensis.

Der Codex 30 der Kölner Diözesan- und Dombibliothek und die Einträge des Thomas

Bei den Marginal- und Interlinear-Glossen des Kölner Codex 30 handelt es sich dagegen wohl um vorbereitende Notizen für die Vorlesung Alberts zu De caelesti hierarchia und De ecclesiastica hierarchia. Sie umfassen
(1) Alternativen zur geläufigen lateinischen Übersetzung des Johannes Sarracenus,
(2) inhaltliche  Erläuterungen in zum Teil längere Randinträgen sowie
(3) Lemma-Abgrenzungen, die durch senkrechte Striche markiert sind.

Die Kölner Beschäftigung mit den Schriften des Ps.-Dionysius Areopagita, die die ältesten Biographien ausdrücklich vermerken, sollten von grundlegender Bedeutung insbesondere für die Gotteslehre des Thomas von Aquin werden - zumal mit seiner „negativen Theologie“, dem Wissen darum, daß alle Rede über Gott vorläufig und unvollkommen ist angesichts der größeren Unfaßbarkeit und Unerkennbarkeit Gottes.

Beispiele aus dem Codex 30 (bitte anklicken)

Codex_30_1_fol_6v
Codex_30_3_fol_10v
Codex_30_4_fol_11r
Codex_30_5_fol_11v
Codex_30_6_fol_13r
Codex_30_7_fol_13v
Codex_30_8_fol_14r
Codex_30_9_fol_15v
Codex_30_10_fol_16r
Codex_30_11_fol_36r

Hier geht's zu Codex 30

Und hier zu einer ausführlichen Beschreibung durch den Leiter der Handschriftenabteilung, Dr. Harald Horst

Es ist noch nicht lange her, daß die Thomas-Notizen im Codex 30 entdeckt wurden. Die Entdeckung geht zurück auf Dr. Maria Burger, Editorin am Albertus-Magnus-Institut, Bonn. Ihre Untersuchungen sind zusammengefaßt in dem Aufsatz:

Burger, M. (2005): „Codex 30 der Dombibliothek Köln. Ein Arbeitsexemplar für Thomas von Aquin als Assistent Alberts des Großen“, in: Symposion "Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek" (= Libelli Rhenani, 12), Köln, 190-208.

Die Charakteristik der Handschrift des Thomas von Aquin

Die Handschrift des Thomas gibt Auskunft von seiner Arbeitsweise wie von seinem Charakter. Sie gibt Anlaß, jenes prälatenhaft-überlegene Bild zu korrigieren, das die christliche Tradition aufgrund seiner Leibesfülle häufig von ihm gezeichnet gezeichnet hat. "Thomas hatte schlicht eine höchst persönliche Handschrift, die eindeutig über das Temperament des Autors Aufschluß gibt", schreibt Jean-Pierre Torrell (Magister Thomas, 112ff.), der die Ergebnisse der Studien der Thomas-Handschriften durch die Editoren der Editio Leonina zusammenfaßt (vgl. insbesondere P.-M. Gils, "S. Thomas écrivain", in Leonina Bd. 50, 175-209):

"Thomas ist 'angespannt und hat es eilig". er "möchte schneller vorankommen", "Geduld", die er für eine korrekte Schreibweise nötig gehabt hätte, "besitzt Thomas nicht" Und nur, weil er bemerkte, daß "seine eigenen Schreibweisen häufig von seinen eigenen Assistenten falsch interpretiert wurden", bemühte er sich um mehr Klarheit. Da er 'gehetzt', 'müde', 'zerstreut' war, ließ er in seinen Texten 'Schnitzer', 'fehlerhafte Schreibarten' und 'fehlerhafte Wortverbindungen' stehen. In der Anstrengung der Formulierung, wenn das Thema oder ein Wort sich ihm entzog und er sich denselben Artikel bis zu dreimal vornahm, 'geschieht es, daß er das Gegenteil dessen schreibt, was er denkt, er vergißt Wörter, schreibt unzusammenhängend', und ... er korrigiert sich nicht immer. [...] 'Thomas ist ein Mann, der es eilig hat. Ständig erfährt er seine eigene Zerstreutheit, die ihn dazu zwingt, seine Arbeit zu unterbrechen und neu zu beginnen. Er kämpft damit, seine Gedanken in eine Ordnung zu bringen, und er kämpft mit seinen Ausdrucksmitteln. Er ist übergenau und zugleich kümmert er sich nicht um Inkonsequenzen, zu denen ihn sein unwiderstehlicher Eifer treibt.' [...] Da er fähig war, sich so leidenschaftlich zu äußern, kann man sich gut vorstellen, wieviel tugendhafte Beherrschung für die Entstehung der ausgefeilten Werke vonnöten war, in denen seine Gefühlswelt praktisch nie zum Vorschein kommt. Die Ungeduld, die man aufgrund seiner Handschrift erkennen kann, legt im Gegenteil beredt Zeugnis dafür ab, daß die Zurückhaltung, die alle als Ausdruck seines Genies anerkennen, nur als Frucht der Selbstbeherrschung gedeutet werden kann." 


Heute ...

Inkunabel Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles

… birgt die Kölner Diözesan- und Dombibliothek, deren Ursprünge bis ins 6./7. Jahrhundert zurückreichen und zu deren Benutzern Thomas von Aquin gehörte, nicht nur eine Reihe weiterer Handschriften und frühen Drucke thomanischer Werke, sondern auch eine Vielzahl kostbarer Codices aus dem Früh- und Spätmittelalter und ist eine der größten theologischen Spezialbibliotheken im deutschsprachigen Raum.