Der Schritt nach Neapel ist für Thomas zugleich ein Schritt heraus aus der alten, im Zerfall begriffenen Feudalordnung des Frühmittelalters in eine neue Welt, die unter dem Vorzeichen städtischer Freiheit und neuer politischer und wirtschaftlicher Lebensformen im Begriff war zu entstehen: Die Städte mit ihren Zünften und Magistraten, mit Handwerk und Handel waren gleichermaßen Orte wie Symbole jener neuen Weltlichkeit, in der sich Initiative und Beweglichkeit mit dem Sinn für individuelle Verantwortung zu einer eigenen Dynamik verbanden.
In die Zeit in Neapel, Hauptstadt des Königreichs Sizilien und seit jeher Umschlagplatz zwischen Orient und Okzident, fällt für Thomas nicht nur (1) der erste Kontakt mit dem Denken und den Schriften des griechischen Philosophen Aristoteles, der für die damalige Zeit und Christenheit die große intellektuelle Attraktion wie Herausforderung sein sollte, sondern vor allem (2) die Bekanntschaft mit dem gerade neu entstandenen Orden der Predigerbrüder und ihrem Ideal einer christlichen Nachfolge, die sich radikal an den biblischen Ursprüngen des apostolischen Lebens in Armut und Wanderpredigt orientierte. Das Ideal des Predigerordens entsprach wie kein anderes den neuen kulturellen und sozialen Gegebenheiten der Zeit. Ihr „natürlicher Ort“ war nicht – wie bisher – die ländliche Abgeschiedenheit des Klosters, sondern das Leben der Städte. Hier war für die Bettelmönche der Ort, die Menschen zu suchen und zu finden.
Die Bibel und Aristoteles
Die Bibel und Aristoteles werden für Thomas zu jenen beiden Grundimpulsen, die dem Leben und Werk des Thomas von Aquin ihre Dynamik und Richtung verleihen - und aus denen sie verständlich werden.
(1) Die Bibel steht für den unmittelbaren Kontakt mit dem Ewigen Wort Gottes, das in den vielen Worten der Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments vernehmbar wird und in der Menschwerdung eine persönliche Gestalt gefunden hat, die durch ihre Lehre und ihr Leben in Armut zur buchstäblichen Nachfolge einlädt.
(2) Die Schriften des antiken „Philosophus“ Aristoteles, die auf einem komplexen Weg der Wiederentdeckung dem Hochmittelalter neu zugänglich wurden, stehen für ein neues Ideal von Wissenschaft und Rationalität, das bis in die Gegenwart prägend werden sollte. Mit Aristoteles und seinem Werk begegnete dem abendländischen Christentum ein nahezu vollständiges System von Wissenschaften, das abseits der christlichen Offenbarung auf heidnischem Boden und ausschließlich mit den Mitteln der natürlichen Vernunft entwickelt worden war. Die Vereinbarkeit von christlichem Glauben und aristotelischem Denken zu erweisen und die Möglichkeit einer Theologie als Wissenschaft nach aristotelischem Vorbild aufzuzeigen, sollte zur epochalen Aufgabe des Thomas werden. – Vor aller intellektuellen Voraussetzung stand das aristotelische Denken zugleich in einer unmittelbare Übereinstimmung oder Verwandtschaft zum Lebensgefühl der Zeit, für die das Diesseitige, Materielle und Natürliche eine neue, eigenständige Bedeutung gewonnen hatte und die in der Weltlichkeit des Städtischen, in der Wißbegier der Universitäten und in der Weite der Kathedralen ihren Ausdruck fand.